Fakten zum Artikel
Ort:

Deutschland

Wer:

Unternehmer, Vertreter von Behörden, Politiker, Medienvertreter

Was:

Der Vergleich von einigen Finanzinvestoren mit Heuschrecken hat dem SPD-Chef Franz Müntefering 2005 viel Protest eingebracht, aber auch eine überfällige Debatte ausgelöst. Die Provokation führte zu mehr Transparenz einer öffentlichkeitsscheuen Branche und zu einer Verständigung verschiedener gesellschaftlicher Akteure auf eine gemeinsame Problemsicht.

Die Heuschrecken-Debatte – eine fortschrittliche Provokation

Franz Müntefering greift 2005 während des Wahlkampfs in Nordrhein-Westfalen tief in die Populismus-Kiste.

Nach Ansicht des Publizisten Michael Wolffsohn hat sich der damalige SPD-Chef sogar in die sprachliche Nähe zu Nationalsozialisten begeben, als er in der Bild am Sonntag manche Finanzinvestoren als Heuschreckenschwärme bezeichnete. Müntefering: Sie „fallen über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter“. Der Sozialdemokrat hat mit diesem unerhörten, Vorurteile schürenden Tiervergleich aber auch eine internationale Debatte über Beteiligungsgesellschaften in Bewegung gesetzt, die sich über mehrere Jahre hingezogen und ausgeweitet hat.

Auslöser ist 2005 die Übernahme des renommierten Armaturen-Herstellers Grohe durch einen Finanzinvestor, einem sogenannten Private Equity-Unternehmen. In der Folge werden teilweise Unternehmensverlagerungen ins Ausland und die Streichung von zahlreichen Stellen am Stammsitz verkündet, der in Münteferings Wahlkreis liegt. Auf sein plakativ-biblisches Bild folgt eine sich zuspitzende, polarisierte Debatte, in der auf der einen Seite „Heuschrecken" gar zu „Aussaugern" werden (IG Metall) und Listen der „bösesten“ Private Equity-Firmen erstellt werden (Stern). Auf der anderen Seite stehen die eiligen Rechtfertigungen der betroffenen Finanzinvestoren, die mit Studien und Veröffentlichungen darlegen, dass sie ein gesamtwirtschaftlich positiver Faktor seien und eben keine Arbeitsplatzvernichter.

Thema hält sich mehrere Jahre in den Medien

Anders als bei anderen medial ausgetragenen Debatten flacht die Aufmerksamkeit für das Thema aber nicht nach einigen Wochen oder Monaten ab. Wie der Kommunikationsforscher Alessandro Schwarz beobachtet hat, haben sich Private Equity-Firmen in der Folge „von einem Randthema in den Medien zu einer viel beachteten Thematik entwickelt.“ Auch zwei Jahre nach dem Heuschrecken-Interview gibt es fast täglich Meldungen in den großen Tageszeitungen zu diesem Bereich.

Eine weitere Besonderheit in der Berichterstattung hat Schwarz in der Studie „Die Heuschrecken-Debatte in der deutschen Wirtschaftspresse“ festgestellt: Auch einige grundsätzlich konservative oder wirtschaftsfreundliche Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Financial Times Deutschland und das Magazin Focus berichten plötzlich mit „eindeutig kritischer Tendenz“ gegenüber den Investoren. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Franz Müntefering eben nicht einen Wahlkampfcoups auf Kosten des Images einer ganzen Branche gelandet hat, sondern womöglich einen realen Treffer.

Finanzinvestoren entdecken den Sinn der Transparenz

Der ehemalige SPD-Chef hat eine Branche ans Licht geholt, die zuvor vor allem verschwiegen im Dunkeln agiert hat. Dadurch, dass es bei den besagten Investitionen um meist nicht oder nicht mehr börsennotierte Unternehmen geht, sind die Aktivitäten kaum transparent. So hat Sigurt Vitols in den WZB-Mitteilungen angemerkt, dass es über den Bereich „keine brauchbaren Daten zu Beschäftigung, Gehältern und wirtschaftlicher Entwicklung (…) gibt.“ Private Equity-Unternehmen sind es nicht gewohnt gewesen, in größerem Umfang öffentlich zu informieren. Nun aber hat der zuständige Lobbyverband BVK laut Vitols in der Folge der Debatte für seine Mitglieder einen Verhaltenskodex und Richtlinien darüber eingeführt, welche Informationen Private Equity-Unternehmen veröffentlichen müssen. So hat Müntefering mit seiner Zuspitzung dafür gesorgt, dass Investoren sich in größerem Maße verpflichtet fühlen, der Gesellschaft Rechenschaft abzulegen. Auch der neue Grohe-Chef David Haines sagt im Jahr 2010 auf die Frage der Tageszeitung Die Welt, was die Private Equity-Branche aus der Heuschrecken-Debatte gelernt habe:

"Vielleicht tatsächlich, dass man die Bedeutung der Öffentlichkeit nicht hoch genug einschätzen kann.“ David Haines

Müntefering hat mit der Macht der Provokation ein vernachlässigtes Thema auf die öffentliche Agenda gebracht, das gesellschaftlich bedeutend geworden ist. Laut WZB-Mitteilungen hat sich das Investitionsvolumen der privaten Beteiligungsgesellschaften seit 1990 bis 2007 mehr als verzehnfacht. Zu dieser Entwicklung hat die ehemalige SPD-geführte Bundesregierung mit ihrer Gesetzgebung selbst beigetragen. Kritiker stören vor allem die Praktiken bei sogenannten Buyout-Fonds, bei denen eigentlich gesunde Unternehmen übernommen werden. Dabei wird kritisiert, dass die Firmenübernahmen hauptsächlich über Kredite finanziert und die Schuldenlast den Unternehmen aufgebürdet würden. Beklagt wird außerdem, dass hohe Managementgebühren anfielen, die das erworbene Unternehmen zu finanzieren habe, und dass Umbaumaßnahmen häufig sehr radikal ausfielen.

Das ganze Finanzsystem gerät auf den Prüfstand

Mittlerweile hat sich der Diskurs verschoben und ausgeweitet. Mit der durch die Immobilienblase ausgelösten Krise von 2008 und der teilweisen Erfolglosigkeit der Strategien vor allem in der Autozuliefererbranche, hat sich das Engagement der Private Equity-Firmen in Deutschland deutlich reduziert; erst seit 2012 gibt es wieder nennenswertes Engagement. Außerdem konzentriert sich die Debatte mehr auf Banken und deren Agieren an den Börsen. Darüber hinaus steht aber das ganze Finanzsystem mittlerweile auf dem Prüfstand. Zwei Aussagen von Franz Müntefering und dem konservativen FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher hören sich ausgesprochen ähnlich an:

Müntefering 2010 in der Süddeutschen Zeitung: „Wenn die Finanzindustrie die Politik im Griff hat und nicht umgekehrt die Politik die Finanzindustrie, dann fragen sich die Menschen, wofür Demokratie denn gut ist.“

Schirrmacher 2013 in seinem Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“: „Dass in der Krise Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden, ist nicht nur ein Ereignis, das die ökonomische Vernunft jedes Einzelnen kränkt, sondern im Kern ein Angriff auf die Idee der Demokratie selbst.“

Die Breite der Diskussion zeigt, dass Münteferings Provokation – eine eindeutig negative Zuordnung – dennoch eine konstruktive Wirkung entfaltet hat, weil sie einen tatsächlichen Kommunikationsbedarf aufgedeckt hat. Sie ist somit in mehrerlei Hinsicht eine Initialzündung zu Transparenz und einer notwendigen öffentlichen Debatte gewesen. Seine unerhörte Bemerkung hat zu Stellungnamen einer bis dato öffentlichkeitsscheuen Branche geführt und zu einer Verständigung verschiedener gesellschaftlicher Akteure auf eine gemeinsame Problemsicht beigetragen.

 

 

 

 

News Feedback

News Feedback